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„Ab da war ich nur noch eine Nummer“ -

Zeitzeugenbesuch am Staatlichen Koblenz-Kolleg

Traditionell erhalten die Kollegiaten des Geschichte-Leistungskurses des Koblenz-Kollegs in der K4 die Möglichkeit, einem von unserem Geschichtslehrer Herrn Dr. Heinz organisierten Zeitzeugengespräch beizuwohnen. Bis 2016 besuchte der 1930 geborene Hans Müller aus Lahnstein, der seine Kindheit im Dritten Reich verbrachte und unter anderem Zeuge des alliierten Bombenkriegs und der französischen Besatzungszeit wurde, regelmäßig unser Kolleg, der jedoch bedauerlicherweise im vergangenen Jahr verstarb.

Somit folgte am 9. April 2018 das erste Mal Frau Elke Schlegel als Zeitzeugin der „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) als zweiter Diktatur auf deutschem Boden der Einladung unseres Geschichtslehrers. Sie schilderte nicht nur ihre Jugend und ihr Leben in der DDR, sondern erklärte vielmehr, was es bedeutete, Staatsfeind im „Arbeiter- und Bauernstaat“ zu sein.

Trotz einer unbeschwerten Kindheit erlebte die 1958 im thüringischen Jena geborene Zeitzeugin schon während ihrer Schulzeit Anzeichen eines Unrechtsstaats, der sich im öffentlichen Anprangern von Schülern widerspiegelte, die durch vermeintliches Fehlverhalten aufgefallen waren. Dazu zählte beispielsweise das verbotene Schauen von westdeutschen statt DDR-Nachrichten, was durch verfänglich gestellte Fragen des Staatsbürgerkundelehrers erfasst wurde. Selbiges galt für die Religionsausübung, die nicht nur eingeschränkt, sondern durch sozialistische Rituale, wie etwa die Jugendweihe, ersetzt werden sollte.

Auch ihr ursprünglicher Berufswunsch Flugbegleiterin, der mit Reisen außerhalb der SED-Diktatur verbunden gewesen wäre, wurde ihr wegen angeblicher Fluchtgefahr verwehrt, da sie Verwandtschaft in der „feindlich-kapitalistischen“ Bundesrepublik hatte. Ferner vergaben die DDR-Behörden Ausbildungsangebote in der staatlich gelenkten Planwirtschaft lediglich nach Bedarf. Somit gab es für sie gleich mehrere Gründe, ihren seit 1961 eingemauerten Staat zu verlassen.

Dies sollte jedoch auf legalem Weg geschehen und nicht etwa durch eine nach DDR-Recht strafbare „Republikflucht“, da sie in ihrem näheren Umfeld miterlebte, wie ein solcher Fluchtversuch blutig scheiterte und durch die Staatsmacht geahndet wurde. Deshalb stellte sie unter Berufung auf die Schlussakte von Helsinki, in der sich die DDR 1975 zur Achtung und Wahrung der Menschenrechte verpflichtet hatte, einen Ausreiseantrag, in dem sie auf die fehlende Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit und die Verweigerung elementarer Menschenrechte in der DDR hinwies.

Frau Schlegel, die zwischenzeitlich nicht nur eine Ausbildung zur Hotelfachfrau absolviert hatte, sondern 1981 auch Mutter eines Sohns geworden war, organisierte sich in der oppositionellen Friedensgemeinschaft Jena und im „Weißen Kreis“, einer Gruppe von Ausreisewilligen, die wegen öffentlicher Proteste und ihres Wunsches, die DDR zu verlassen, von der Staatssicherheit (Stasi) kriminalisiert wurde und unter anhaltenden Repressionen zu leiden hatte. Nach mehreren vorläufigen Festnahmen „zur Klärung eines Sachverhalts“ wurde ihr schließlich der Personalausweis entzogen und ihr stattdessen ein provisorischer Ersatzausweis ausgestellt, der der Stigmatisierung bei Behördengängen diente und sie im Alltag, wie zum Beispiel bei der Wohnungssuche, behinderte.

Den Höhepunkt staatlicher Willkür erlebte Frau Schlegel 1983, als sie zusammen mit ihrem Mann am „Tag der Menschenrechte“ in Jena von sechs Stasi-Mitarbeitern festgenommen und wegen „Zusammenrottung“ sowie angeblich geplanter „Republikflucht“, die sie nie in Erwägung gezogen hatte, in Untersuchungshaft genommen  wurde. Mit den Worten „Ich gehe Dir was Schönes kaufen“ musste sie sich von ihrem Sohn verabschieden. Nachdem die Stasi vergeblich versucht hatte, sie während der stundenlangen schikanösen Verhöre mit Schlafentzug und Suggestivfragen zu einem Geständnis zu verleiten, bekam Frau Schlegel auch noch ein Telefonat mit ihrem Vetter im Westerwald vorgeworfen, mit dem sie über eine mögliche Einreise in die Bundesrepublik gesprochen hatte. Nach dreimonatiger Untersuchungshaft - von der Stasi wie ein Schwerverbrecher und nur noch als Nummer behandelt - wurde sie letztlich wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt.

Danach wurde Frau Schlegel in das berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck im sächsischen Stollberg überstellt, in dem sie in einer überfüllten Zelle, mit 42 Frauen auf engstem Raum zusammengepfercht, zahlreiche tätliche Übergriffe durch ihre Mithäftlinge und Demütigungen durch das weibliche Aufsichtspersonal erleben musste. Als politische Gefangene hatte sie im Strafvollzug der DDR weniger Rechte als verurteilte Mörderinnen oder Gewohnheitskriminelle, die die große Mehrheit der Strafgefangenen in Hoheneck ausmachten. Minderwertiges und ungenießbares Essen wie nasses Brot oder eigentlich zur Verwendung als Viehfutter vorgesehene Rüben bestimmten ebenso den Haftalltag wie die zu leistende Zwangsarbeit im Gefängnisbetrieb, in dem von ihr Bettwäsche für den anschließenden Verkauf nach Westdeutschland zu fertigen war. Auch Disziplinarmaßnahmen, wie der von der Zeitzeugin wegen des verbotenen Singens des bekannten Volkslieds „Die Gedanken sind frei“ durchlittene Aufenthalt in der sogenannten „Wasserzelle“, waren in Hoheneck für politisch Inhaftierte Alltag.

Erst der durch den bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß vermittelte, der wirtschaftlich maroden DDR zugute kommende Milliardenkredit, für dessen Gewährung der BRD-Politiker Ausreisegenehmigungen für politisch Inhaftierte verlangte, führte 1984 zum Freikauf von Frau Schlegel. Nach fast sechsmonatigem Gefängnisaufenthalt in Hoheneck völlig abgemagert, wurde sie zunächst zur „Aufpäppelhaft“ in ein Gefängnis in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) verlegt. Nachdem sie - unter Betreuung von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, dem inoffiziell für die Stasi arbeitenden Unterhändler der DDR beim Häftlingsfreikauf - bestätigte, über ihre entwürdigenden Erlebnisse in Hoheneck Stillschweigen zu bewahren, durfte Frau Schlegel den „real existierenden Sozialismus“ der DDR in Richtung Westdeutschland verlassen. Kurz darauf gelangte auch ihr ebenfalls inhaftierter Mann aus dem Unrechtsstaat in die Freiheit und ein weiteres Jahr später durfte sie endlich auch ihren Sohn, der derweil bei der Großmutter in Thüringen lebte, zu sich holen.

Frau Schlegel beschloss erst Anfang der 2000er Jahre, sich mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu wenden und die daraus resultierenden Gespräche als Ver- und Aufarbeitung des Erlebten zu nutzen. Sie leidet noch heute unter den Spätfolgen der menschenunwürdigen Zustände ihrer Haft und der Verfolgung durch die Stasi, die sie in der Bundesrepublik sogar noch weiter bespitzeln ließ, was sich in Angstzuständen und Schlafstörungen auswirkt. Als Leidtragende der unmenschlichen DDR-Diktatur und Opfer des SED-Regimes sieht sie sich im Alltag zudem nicht selten mit ihrer Vergangenheit konfrontiert; sei es durch das gedankenlos und verklärend erfolgende Zeigen von DDR-Symbolen oder durch Begegnungen mit ehemals regimetreuen Menschen, die ebenfalls in der DDR lebten.

Die Zeitzeugin schloss ihren anderthalbstündigen Besuch am Koblenz-Kolleg mit einem Appell an die Kollegiaten, von den politischen Freiheiten, die im Gegensatz zur DDR in der Bundesrepublik gegeben sind, Gebrauch zu machen. An dieser Stelle möchten wir uns im Namen des Geschichte-Leistungskurses der K4 bei Frau Schlegel herzlich für das sehr aufschlussreiche und bewegende Zeitzeugengespräch sowie bei Herrn Dr. Heinz, der uns diese Erfahrung ermöglicht hat, bedanken.

 

Melinda Kreutz, Fabian Wäldl, K4

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